Yukio Mishima zählt zu den Autoren und Autorinnen, auf die ich so aufmerksam wurde, wie ich manchmal im Vorbeigehen auf ein ausgefallenes Designermöbelstück in einem Schaufenster in der Innenstadt aufmerksam werde. Auch wenn der erste Eindruck nur flüchtig ist, setzt sich die Idee des Gegenstands in meinem Kopf fest und lässt mich nicht los. Ich beginne im Internet danach zu suchen, nur, um mir das Möbelstück anzusehen und zu überlegen, wie es wohl in meiner Wohnung aussehen könnte. Ernsthaft abwägen, es zu kaufen, oder zumindest mal in einem Geschäft nochmal genauer in Augenschein zu nehmen, tu ich jedoch sehr lange nicht. Eine bestimmte Art der Faszination und Mystik ergibt sich eben nur mit der dafür nötigen Distanz zum echten Ding.
Nachdem ich das erste Mal von Mishima gehört oder gelesen hatte, verbrachte ich also erstmal einige Zeit damit, die Idee dieser Person in mir gedeihen zu lassen. Selbstredend haben sich aus seiner ausgedehnten Aufenthaltsdauer in meinen Gedanken irgendwann auch bestimmte Erwartungen an sein Werk ergeben. Die leichte Anspannung, die oft zwischen Vorstellung und noch nicht wahrgenommener Realität entsteht und das dunkle Tor zu vielerart Enttäuschung offen hält, habe ich nun endlich doch auflösen können: Mit Life for Sale habe ich die Distanz zwischen mir und Mishimas Kunst in einem ersten Schritt zu überwinden begonnen.
Das Schaufenster, in dem ich Yukio Mishima das erste Mal erblickte, befand sich irgendwo in den unergründlichen Weiten des Internets. Ich kann mich nur vage daran erinnern, dass ich einige mindestens so faszinierende wie beunruhigende Fakten über sein Leben las, die mich wiederum auf seine Wikipediaseite führten, die, nebenbei bemerkt, beachtlichen Umfangs ist. Mein, zugegeben, sich aus oberflächlichen Nachforschungen speisender Eindruck von Mishima ist, dass er zweifelsfrei ein Mann der großen Ideen war. Ich denke, dass diese Schlussfolgerung, in Anbetracht seines rituellen Selbstmords nach einem gescheiterten Putschversuch zur Auflösung des Parlaments und der Wiedereinsetzung des japanischen Kaisers, durchaus eine seine Berechtigung hat. Ein Mensch, der sich nicht aus geistiger Unmündigkeit, sondern im Gegenteil, ehrlicher und durchdachter Überzeugung einer Ideologie widmet, muss noch kein guter Schriftsteller sein. Allerdings weckt eine begabte Schriftstellerin, die sich von einer Ideologie hat einnehmen lassen, bei mir besonderes Interesse. Im schlimmsten Fall steht man einer effektiven Propagandistin gegenüber, im interessantesten Fall sieht man durch die Nähte eines literarischen Werks das Weltbild der Autorin durchschimmern, ohne, dass es das Werk überschattet oder zu allzu offensichtlichen Analysen verleitet.
Letzten Endes muss ich allerdings gestehen, dass ich ein Kunstwerk am liebsten recht konsequent vom Autor trenne. Die Persönlichkeit des Verfassenden kann zwar ein Grund sein, auf jemanden aufmerksam zu werden, doch es darf für mich nicht entscheidend sein in der Beurteilung eines Kunstwerks; dieses sollte für sich selbst sprechen können. Die in mir lebende Idee von Mishima werde ich bestimmt nicht spurlos aus meiner Lesart seiner Bücher tilgen können, doch ist es eben nur das, eine Idee. Das Buch allerdings ist real und erlebbar.
Life for Sale handelt von einem jungen Japaner, der nach einem gescheiterten Selbstmordversuch, von dem wir auf der ersten Seite des Buchs erfahren, mit Hilfe einer Zeitungsanzeige sein Leben zum Verkauf stellt. Im Laufe der Handlung nimmt die unterschiedlichste Kundschaft dieses Angebot in Anspruch und stets stellt der Protagonist gewissenhaft, ganz im Sinne eines seriösen Geschäfts, sein Leben zur Verfügung. Doch, wie so häufig, gelingen einem die schwierigsten Sachen dann besonders gut, wenn man aufhört sich ernsthaft Mühe zu geben. Und so überlebt unser Protagonist absurdeste Umstände, die aus seinem neuen Geschäftmodell entstehen: der Verzicht auf sein eigenes Leben als kaufbare Dienstleistung.
Schon der Titel des Buchs löst, zumindest bei mir, eine gedankliche Unruhe aus. Auch ohne sich der im deutschen Grundgesetz eingemeißelten Unantastbarkeit der menschlichen Würde zu besinnen, stößt bereits der Gedanke, ernstlich die Verkäuflichkeit eines Menschenlebens zu erwägen, auf gehörigen inneren Widerstand. Die Unbequemlichkeit dieses Konzepts bewahrt es natürlich nicht davor, stellenweise Realität zu sein, vielleicht verstärkt besagte Realität diese Unbequemlichkeit sogar. Doch der Lebensverkauf in Life for Sale hat nichts mit den unbequemen Realitäten des erzwungenen Menschenhandels, sei es durch Gewalt oder durch Not, gemein.
Ganz im Gegenteil, der vermeintliche Ernst der Idee eines Lebensverkaufs geht unter in der humoristischen Absurdität des Erzählten. Sogar Szenen, in denen der Protagonist fest mit dem unmittelbar bevorstehen Ende seines Lebens rechnet, bringen keine existenzialistischen Sinneskrise über das eigene Dasein hervor. Entsprechend hat der Bedeutungsverlust seiner Sterblichkeit für den Protagonisten nicht etwas düster Nihilistisches, sondern etwas vage Befreiendes. Er gibt sich einfach seinen äußeren Umsänden hin, gibt sein Leben aus der Hand, in gewisser Weise trennt ihn sein Lebensverkauf von der Realität der übrigen Menschen ab. Dies führt zu einem wahrlich surrealen Zustand und dazu passenden Ereignissen, denen wir beiwohnen dürfen.
Wie es einem Menschen gebührt, der versucht die beängstigende Fremde der Welt um ihn herum in beengende Muster zu drücken, um sich zumindest ein bisschen zurechtfinden zu können, musste ich beim Lesen von Life for Sale schon nach den ersten Seiten an ein anderes Buch denken, das ich letzten Sommer gelesen habe. Pulp von Charles Bukowski war wahrscheinlich das spaßigste Buch, mit dem ich es letztes Jahr zu tun hatte. Einige grundlegende Eindrücke aus Pulp fand ich in Life for Sale für mich wieder: ein beinahe befremdlich distanziertes Verhältnis zu seiner eigenen Existenz, eine rohe Klarheit des Erzählten, so dezente Spuren surrealer Elemente, dass man zweitweise desorientiert in seiner eigenen Lesart des jeweiligen Buchs ist: wie viel vom Geschriebenen ist irgendwie in der Realität verankert und wie viel entspringt einer Gedankenwelt, die mit unserer Stofflichen sehr wenig gemein hat?
Beeindruckend für mich, ist die Tatsache, dass Pulp - nebenbei bemerkt, der letzte Roman Bukowskis, den er zu Lebzeiten beenden konnte - über 25 Jahre älter ist, als Mishimas Life for Sale. Keines der Werke macht durch seine Existenz das jeweils andere überflüssig, und doch hätte ich eine solche wahrgenommene Ähnlichkeit nicht erwartet. Als eines der unzähligen Symptome des über alle Maßen erfolgreichen Kulturexports der vereinigten Staaten, habe ich zudem dieses Genre des Schreibens stets fest mit den USA verbunden. Und nicht nur Bücher, auch Pulp Fiction von Tarantino ist für mich ein Werk, das unzertrennlich ist von dem es durchtriefenden Amerikanismus. Einen japanischen Autor, der noch zudem überzeugter Ultranationalist gewesen ist, zu lesen, und so viele Parallelen zu verspüren, ist schon ein wenig sonderbar.
Wo wir schon bei dem beinahe erstickenden Erfolg des US-amerikanischen Kulturexports waren: Ich habe Life for Sale, wie man an meiner Verwendung des englischen Titels erahnen kann, in englischer Übersetzung gelesen. Es ist das erste Buch, das ich von Mishima gelesen habe und mein nicht existentes Japanisch erlaubt es mir auch nicht ihn im Original zu lesen. Ein Umstand, der sich wahrscheinlich nicht ändern wird, und wenn, dann nicht so bald. Dennoch möchte ich kurz erwähnen, dass ich beim Lesen einige Male über Phrasen gestolpert bin, die mir ein bisschen, wie Fremdkörper erschienen. Es handelte sich um Sätze, die, meiner Auffassung nach, dermaßen stilisiert US-amerikanisch ausgeführt waren, dass ich mir nicht vorstellen kann, dass es sich um eine dem Original treu bleibende Übersetzung handelt. Vielmehr scheint es mir, dass die besagten Phrasen ausschließlich von einem Muttersprachler aus den USA zu Papier gebracht werden konnten. Mir fehlen die Japanischkenntnisse, um zu beurteilen, ob diese stilistischen Extrapolationen überhaupt welche sind, und wenn ja, inwiefern sie gerechtfertigt waren. Abschließend bleibt mir also nicht viel übrig, außer zum Vergleich eine deutsche Übersetzung heranzuziehen oder Japanisch zu lernen. Hätten wir das ganze mit dem Turmbau zu Babel mal lieber sein gelassen, aber was soll's, man lernt manchmal eben nur aus schweren Fehlern.
Trotz meines festen Vorsatzes, im Allgemeinen die Künstlerin soweit es geht von ihrer Kunst zu trennen, hatten sich natürlich Erwartungen an das erste Buch von Mishima in mich eingeschlichen. Diese Erwartungen waren nicht allzu konkret oder ausgereift, doch die Umrisse sind zumindest scharf genug gewesen, als dass ich sagen kann, dass ich ein bisschen überrascht bin. Wenn ich mir das Wenige in's Gedächtnis rufe, das ich über den Autoren weiß, dann hätte ich mit einer anderen Art Buch gerechnet. Nicht unbedingt mit etwas, das Nabokov verächtlich erzieherisch nennt, aber doch etwas, das die Empfänglichkeit Mishimas den großen Ideen gegenüber eher widerspiegelt. Denn im Grunde ist Life for Sale von diesen Ideen nicht nur befreit, ein zentrales Element des Buchs ist für mich die Loslösung von allen Ideen und Prinzipien. Und sogar diese kompromisslose Loslösung von jeglichen Leitgedanken mündet in keiner erzieherischen Schlussfolgerung, ja das Buch enthält für mich garkeine Schlussfolgerung. Es erinnert in dieser Hinsicht ein bisschen an die Filme der Cohen Brüder: die Geschichte hat Anfang und Ende, aber das Ende birgt keinerlei Abgeschlossenheit, sondern es ist eben nur der Punkt, an dem aufgehört wird, zu erzählen.
Meine Idee von Mishimas Schreiben hat mit Life for Sale eine erste Grundlage bekommen, die ich gerne ausbauen möchte. Nach diesem ersten Buch, weiß ich wahrlich nicht, was für Erwartungen ich an das restliche Schaffen dieses Autors stellen soll, womöglich sollte ich mich hier aber, wie auch im Rest meines Lebens, an der Leitidee eines sehr guten Freundes orientieren und mich darum Bemühen, Erwartungen als Konzept in ihrer Gesamtheit sanft aus meinem Leben zu schieben. Es bleibt allerdings die Neugierde nach der Frage, wie sich meine Idee von Mishimas Kunst wohl mit dem nächsten Buch ändern wird.